AVT Köln

Die Klinik war mir nicht neu, ich kannte sie bereits aus meiner Studienzeit und hatte dort ein Praktikum absolviert. Jetzt kam ich als „fertige“ Psychologin wieder und wurde freudig begrüßt. Den Grund für die Freude erkannte ich schnell: Die psychologische Leiterin war erkrankt und sollte für längere Zeit ausfallen. Wie schön, dass gerade zu diesem Zeitpunkt eine neue psychologische Praktikantin auftauchte! Mein erster Eindruck war dann auch eher der einer großen Verantwortung, die sich von allen Seiten auf meine Schultern zu legen drohte. Hier eine besonders schwierige Neuaufnahme, die ich übernehmen sollte („das ist ganz klar ein Fall für unsere Psychologin!“), dort eine offene Gesprächsgruppe, die die Kollegen gerne in meine Leitung geben wollten (Nichts erscheint mir bis heute noch anstrengender als offene Gesprächsgruppen, bei denen man vor der Sitzung nie weiß, worauf man sich einlässt und wo der Therapeut in der Regel die Person ist, die das Schweigen der Teilnehmer am schlechtesten aushält!).

Schnell merkte ich, dass ich gut aufpassen musste, um nicht mit Arbeiten zugeschüttet zu werden und um nicht das Gefühl von zu viel Verantwortung zu bekommen. Ich machte mir (auch mit Hilfe der Kliniksupervisorin) klar, dass ich mir den meisten Druck selbst aufbaute, weil ich noch gar keine Therapeutin war und folglich auch noch keine „perfekten“ therapeutischen Arbeiten abliefern konnte. Aber ich merkte auch mit der Zeit, dass Therapie in einer Klinik etwas ganz anderes sein konnte als das, was die Lehrbücher vermitteln: nämlich zuhören können, Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken, Geduld und Verständnis zeigen, Ermunterungen und Zuversicht geben, mit Freundlichkeit und Humor eine positive Stimmung vermitteln.

Das Lesen unzähliger Krankenakten, eine Fleißarbeit, die aber sehr interessante Aufschlüsse über Hintergründe und mögliche Ursachen der vorliegenden Erkrankungen liefert, habe ich mir schnell zur Gewohnheit gemacht. Man erfährt dabei nicht nur, was ein Patient bereits für eine Klinikgeschichte mit sich führt, sondern erkennt auch bald typische Behandlungsmuster bei bestimmten Störungsbildern und erfährt, mit welchen Methoden der Patient am besten profitieren konnte und welche Angebote für ihn weniger geeignet scheinen. Und es ist eine Möglichkeit, die teilweise sehr erschreckenden Geschichten der Patienten weniger hautnah zu erleben, als wenn man sie zum ersten Mal aus dem Mund des Patienten erfährt - eine Art Desensibilisierung im besten Sinn also.

Beeindruckend fand ich aber vor allem die Patienten, denn nur bei ihnen lernte ich Störungsbilder am lebenden Menschen kennen, die ich zuvor nur aus Lehrbüchern kannte. Der Unterschied ist enorm und diese Erfahrung zählt für mich nach wie vor zu dem Wertvollsten, was das klinische Jahr zu bieten hat. Nirgendwo sonst erlebt man derart schwer erkrankte Patienten so umfassend und in dieser Eindrücklichkeit wie in einer psychiatrischen Klinik. 
Ich konnte bei Neuaufnahmen von Psychosepatienten miterleben, wie beängstigend und überwältigend deren Erlebnisse sind, wie unverrückbar das Erleben eine Scheinrealität vorgaukelt und wie nur mühsam, aber mit umso größerem Entsetzen die Patienten die Wirklichkeit wieder akzeptieren lernen, welche Verunsicherung dabei aber gleichzeitig bezüglich der Vertrauenswürdigkeit eigener Wahrnehmung entsteht. 
Ich konnte miterleben, wie allumfassend eine schwere Depression einen Menschen lähmt und wie lange dieser Zustand scheinbar unveränderlich diesen Menschen in Erstarrung versetzen kann. Aber auch die Wirkung von antidepressiver Medikation, die irgendwann zunächst eine Aktivierung bewirkt und erst später eine Stimmungsaufhellung, fand ich sehr beeindruckend. Einer unserer Patienten, der viele Wochen lang gänzlich passiv, Löcher in die Luft starrend, in der Ecke gesessen hatte, saß eines Morgens im Gruppenraum und las wieder eine Tageszeitung. Bis er allerdings sein erstes wirklich frohes Lächeln zeigte, vergingen weitere Wochen.

Durch die lange Zeit, in der man im Klinischen Jahr die Patienten begleiten kann, lernt man auch sehr gut die Möglichkeiten der Rehabilitation und Wiedereingliederung ins Berufsleben oder in die häusliche Umgebung kennen. Dabei sind oft Kompromisse nötig. Menschen, die an einer schweren psychischen Erkrankung leiden, können häufig nicht mehr an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück oder müssen ihre beruflichen Pläne verändern, weil sich beruflicher Stress negativ auf die weitere Entwicklung des Krankheitsbildes auswirken kann. Also ist es sinnvoller, eine schonende Zukunftsplanung zu unterstützen und den schmerzhaften Abschied von „ungesunden“ Berufsträumen behutsam vorzubereiten. Solche Gespräche fand ich am Anfang recht belastend, weil ich mich zu sehr in die Patienten einfühlte und mit ihnen litt.

Die Wirkung von Psychopharmaka konnte ich in der psychiatrischen Klinik sehr gut beobachten. Während ein Psychosepatient oft schon nach wenigen Tagen wieder recht gut distanziert von seinen Wahnwahrnehmungen ist, warten Depressionspatienten nicht selten Wochen und Monate darauf, dass sich irgendeine Veränderung ihres Zustandsbildes ergibt.
Sehr deutlich wird erkennbar, dass Medikamente eben nicht nur Gutes tun, sondern auch an vielen Rezeptoren andocken, bei denen sie unerwünschte Wirkungen hinterlassen, die so genannten Nebenwirkungen. Antriebslosigkeit, Bewegungsunruhe oder der typische steife Gang von Neuroleptikapatienten sind eindrucksvolle Erscheinungen, die für die Patienten sehr belastend sind und oft die Bereitschaft zur Fortsetzung der Mediakamenteneinnahme ernsthaft gefährden.

Ein wichtiges „dunkles“ Kapitel der Klinikarbeit ist der Umgang mit Tod und Suizidalität. Wenn man ein ganzes Jahr in einer Klinik verbringt, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas „passiert“, recht hoch. Ich habe in meiner Zeit an der Klinik auf meiner Station mehrere Suizidversuche, einen durchgeführten Suizid und den plötzlichen Tod unseres noch jungen Stationsarztes miterlebt. Es ist wichtig, dass man sich mit dem Thema Tod und Suizid auseinandersetzt, sowohl, um eine persönliche Haltung dazu zu entwickeln, vor allem aber, um seine Rechte und Pflichten im beruflichen Kontext sehr genau zu kennen. Und im Umgang mit den Patienten habe ich die schwierigste Aufgabe darin gesehen, meine eigene Betroffenheit in solchen Krisensituationen sehr zu dosieren und hintenan zu stellen, um zuerst einmal die viel labileren Patienten zu schützen und zu stabilisieren.

Welche psychotherapeutischen Angebote konnte ich machen und was habe ich selbst an Lehren mitgenommen? Ganz elementar ist in der Psychiatrie der Wiederaufbau von Tagesstruktur und sinnvoller Freizeitplanung. Sehr viele Patienten brauchen hierbei Hilfe und diese Hilfe können wir im Praktikum auch ohne große „therapeutische“ Kenntnisse geben. 
Die meisten Patienten profitieren sehr von sozialem Kompetenztraining. Für dieses Gruppenangebot gibt es gut strukturierte Programme mit sinnvollen Arbeitsmaterialien, die man auch als Gruppentherapieanfänger gut umsetzen und vermitteln kann. Der Vorteil solcher Gruppenprogramme ist ihre gute Strukturiertheit. Man weiß als Therapeut, was passieren soll, man weiß, mit welchen Aufgaben man dorthin kommen kann und man weiß, worauf man dabei zu achten hat. Es ist relativ wenig dem Zufall oder dem „höheren therapeutischen Geschick“ überlassen. Wenn man eine solche Gruppe am Anfang vielleicht erst einmal zu zweit anbietet, schafft man sich so leicht erste therapeutische Erfolge, die einem Mut geben können, auch andere Gruppenangebote zu machen. 
Viele Patienten haben ernsthafte Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen, die man auf spielerische Weise gut beeinflussen kann. Es gibt eine ganze Reihe guter Gesellschaftsspiele für Erwachsene, mit denen man Konzentration und Wahrnehmung trainieren kann und ich habe gerne mit „meinen“ Patienten gespielt. Wichtig ist dabei ein Spielmaterial, das erwachsenengerecht ist und das auch Spaß macht.

Schön ist es, wenn man die Ressourcen, die jeder Patient irgendwo noch hat, nutzen kann. Die Patienten haben durch ihre Erkrankung oft so großen Schaden an ihrem Selbstbewusstsein genommen, dass jede Möglichkeit, ihnen Selbstvertrauen wiederzugeben, ausgeschöpft werden sollte. 
Ich hatte die Möglichkeit, in meinem Klinischen Jahr vieles auszuprobieren. Und so ließ ich Patienten in einer „Koch-AG“ für einen Teil ihrer Mitpatienten eigene Rezepte ausprobieren. Mit mehr oder weniger Unterstützung gelang es so den einladenden Patienten, Lob für ihr gelungenes Essen zu erhalten, ein wichtiger Verstärker für Selbstvertrauen und Aktivität. 
In einer Literaturgruppe forderte ich die Teilnehmer auf, kleine Texte zur Besprechung mitzubringen, die ihnen im Laufe einer Woche aufgefallen waren. Ich war sehr überrascht, wie viele Patienten selbst Gedichte oder Lieder geschrieben hatten, die sie den übrigen Patienten vorstellen konnten.

Ein Highlight der Behandlung war unsere Genussgruppe. Mit Erlebnismaterial für alle Sinne und durch die Beobachtung beherzter damit umgehender Mitpatienten gelang auch den schwerer gestörten Patienten der Zugang zu dem Material und damit der Zugang zu Erinnerungen an eine unbeschwertere Zeit. Durch geschicktes Fragen konnte ich oft die ganze Gruppe für die Erlebnisse des einzelnen Patienten fesseln. Und ich fand es wunderbar zu sehen, dass jeder über Erinnerungsbrücken verfügt, die ihm gut tun. Unvergessen wird mir das traumverlorene Spiel einer Patientin mit einer Schneekugel sein. Es war eine zuvor sehr stille, fast lethargische Psychosepatientin. Sie schüttelte immer wieder die Kugel und träumte mit offenen Augen. Als ich sie behutsam ansprach, erzählte sie, sie habe als Kind eine solche Kugel besessen und sehr geliebt. Ich ermutigte sie dazu, sich wieder eine Schneekugel zu kaufen und nach einigem Zögern („ist das denn nicht nur was für Kinder?“) stimmte sie zu. In der nächsten Sitzung berichtete sie stolz, dass sie sich eine Kugel gekauft habe, welchen Ehrenplatz sie in ihrer Wohnung habe und wie schön sie sei. 
Eine andere, sehr scheue und schüchterne Patientin brachte nach Ermunterung durch die Gruppe einen funkelnd bunten Kristallschmuck mit, den alle bewunderten.

In meiner eigenen Gruppenarbeit lernte ich schnell, die Gruppendynamik zu durchschauen und dann auch gezielt einzusetzen. Wichtig ist dabei die Einsetzung von Gruppenregeln; Wertschätzung und positive Kritikäußerung sind dabei wesentliche Elemente. Aber in jeder Gruppe finden sich Teilnehmer, die das Gespräch führen, die Impulse geben und Fäden gut aufgreifen. Bis zu einem gewissen Maß lassen sich solche Patienten gut „kotherapeutisch“ einsetzen. Aber hierzu bedarf es etwas Fingerspitzengefühls, das man aber auch tatsächlich schnell bekommt. Ich war über mich selbst erstaunt, wie schnell ich eine gewisse Sicherheit mit Gruppen bekam, obwohl ich zunächst großen Respekt vor Gruppentherapie hatte. 
Aber auch bei meinen nichtpsychologischen Kollegen sah ich interessante Arbeitsergebnisse. Beeindruckend fand ich die Wirkung von Ergotherapie. Patienten, die im Therapiegespräch oft hilflos nach Worten suchten, konnten sich plötzlich im kreativen Setting richtig ausdrücken und ihre Emotionen darstellen. Und sie konnten auch darüber sprechen und mit Hilfe ihrer Kunstwerke erklären, wie es in ihnen aussah. 
Ebenso beeindruckend erlebte ich die Sporttherapie. Viele Patienten schlichen träge und wenig ambitioniert in die Sporthalle und kamen leichtfüßig und heiter hinterher wieder heraus. Die oft unmittelbar stimmungsaufhellende Wirkung von Bewegung zu sehen fand ich sehr überzeugend.

Größte Bewunderung empfand ich für die Leistung des Sozialarbeiters, der mit seiner dicken Terminkladde von Station zu Station lief, unendlich viele Kontakte hatte und unermüdlich neue Wege für jeden Patienten aufzeigte.

Von den Ärzten lernte ich vor allem Zeitmanagement. Sie hetzen von Termin zu Termin, werden aus allen Sitzungen heraus“gepiept“ und müssen innerhalb kürzester Zeit präzise Informationen erheben. Auf ihren Schultern lastet die Verantwortung für alles, was auf der Station passiert, auch für die Arbeit von uns, den psychotherapeutischen Praktikanten.

In den gemeinsamen Sitzungen mit allen Professionen konnte ich beobachten, wie in der Klinik der Patient von allen Seiten gleichzeitig beobachtet und gefördert wird. Jede Berufsgruppe hat eine andere Möglichkeit, den Patienten kennen zu lernen, seine Ressourcen zu entdecken und mit diesem Wissen zu einem Gesamtbild des Patienten beizutragen. Dies ist sicherlich ein Vorteil der Klinikarbeit, den wir uns aber später in der therapeutischen Arbeit zunutze machen können, zum Beispiel, indem wir den Patienten zu sportlicher oder kreativer Betätigung ermuntern oder indem wir wissen, welche sozialen Netzwerke für ihn zur Verfügung stehen.

Ich habe während meiner Klinikzeit kein Geld bekommen. Glücklicherweise konnte ich es mir leisten, nebenbei nicht auch noch Geld verdienen zu müssen, sonst wäre diese Zeit sicherlich sehr viel anstrengender geworden und ich hätte mich nicht so sehr auf die Arbeit mit den Patienten konzentrieren können. Aber ich bedauere auch keine Minute, die ich unentgeltlich in der Klinik verbracht habe. Ich habe sehr viel gesehen und gelernt, was ich nirgendwo sonst hätte erfahren können und was mir hinterher zum Verständnis für meine Patienten und zum Aufbau meiner eigenen therapeutischen Identität sehr geholfen hat.